2020 gab Aberdeen Standard Investments eine umfassende Umfrage an den fünf größten Versicherungsmärkten in Europa – Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und die Schweiz – in Auftrag. Unser Ziel war es, herauszufinden, wie Versicherungsanleger auf die Herausforderungen in Bezug auf ökologische, soziale und Governance-Belange (ESG-Belange) reagieren. Der vollständige Bericht umfasst die aktuellen Praktiken, künftigen Zielsetzungen und Ansichten der wesentlichen Entscheidungsträger von 60 europäischen Versicherungsunternehmen.

Ein wichtiges Thema unseres Research betrifft die Faktoren, die Versicherungsgesellschaften dazu veranlassen, ESG-Praktiken anzuwenden. Aus den Antworten der Umfrageteilnehmer ergab sich eine Reihe von wesentlichen Treibern, darunter Werte und Ethik, Risikomanagement, Stakeholder-Management, Regulierung und Geschäfts-/Marketingchancen.

Risikomanagement als Haupttreiber

Unter diesen Treibern stellt das Risikomanagement den wichtigsten Faktor dar. Rund 81% der Befragten nannten es als Haupttreiber. Die meisten Versicherungsunternehmen investieren auf lange Sicht. Somit stellen die langfristigen ESG-Herausforderungen einen wesentlichen Risikofaktor für sie dar. Mehr als zwei Drittel der Lebensversicherer gaben an, dass die Anwendung von ESG-Praktiken durch ihren langfristigen Anlagehorizont bedingt wird. Den Worten eines französischen Lebensversicherungsunternehmens zufolge „werden ESG-Faktoren, insbesondere klimabedingte Risiken, innerhalb eines Zeitraums zum Tragen kommen, der kürzer ist als die Haltedauer unserer privaten Anlagen oder die Laufzeit unserer langfristigen Anleihen“.

Sach- und Unfallversicherer vertreten eine andere Meinung. Sie weisen kürzere Anlagehorizonte auf und legen hauptsächlich in äußerst liquide Anlageklassen an, sodass ESG-Faktoren weniger relevant sind. Ein britischer Sach- und Unfallversicherer äußerte sich wie folgt dazu: „Der Großteil unserer Vermögenswerte wird in Geldmarktfonds und Investment-Grade-Anleihen kurzer Laufzeit gehalten. ESG-Analysen zu diesen Anlageklassen sind kaum möglich und tatsächlich werden sich ESG-Faktoren wahrscheinlich nicht auf unsere Anlageperformance auswirken.“

ESG: mehr Risiko als Chance

ESG wird dabei insgesamt eher als Risiko denn als Chance wahrgenommen. Während 82% der Lebens- sowie 67% der Sach- und Unfallversicherer das Risikomanagement als einen Haupttreiber für die Verwendung von ESG-Praktiken ermittelten, lag der Prozentsatz derjenigen, die nachhaltige Anlagen als Chance sehen, niedriger.

Nur 24% der Befragten sagten aus, dass sie bei der Suche nach Anlagegelegenheiten Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigen würden. Anlagechancen erkennen diese Umfrageteilnehmer bei wichtigen Nachhaltigkeitsthemen, allen voran grünen privaten Anlagen. Das Engagement von Versicherungsunternehmen bei nicht börsennotierten Anlageklassen hält sich jedoch häufig in Grenzen, wobei der Großteil der Investitionen auf Long-Only-Fixed-Income-Produkte entfällt. Dadurch wird das Potenzial grüner privater Anlagen, als wichtiger Treiber nachhaltiger Anlagepraktiken zu fungieren, von vornherein begrenzt.

Druck seitens Anspruchsgruppen treibt Veränderungen voran
Es zeichnet sich jedoch ein Wandel ab. Obschon derzeit nur 33% der Versicherungsunternehmen nachhaltige Anlagen als Geschäfts- oder Marketingchance betrachten, sehen einige ESG allmählich in einem anderen Licht. Dieser Wandel resultiert aus dem zunehmenden Druck seitens der Versicherungsnehmer sowie aus der Erkenntnis, dass Versicherer ihr Wertangebot an die Endkunden anpassen können.

Als Folge bewerben einige Versicherungsgesellschaften mittlerweile ihre Nachhaltigkeitsmerkmale gegenüber Kunden und bieten innovative Produkte an, die es den Kunden erlauben, „ihr Erspartes wirkungsvoll anzulegen“.

Dennoch stellt die Geschäfts- oder Marketingchance nur einen geringen Treiber dar, vor allem bei Sach- und Unfall- sowie Rückversicherungsunternehmen. Die gängigste Erklärung hierfür ist die wahrgenommene Distanz zwischen den Anlagestrategien und den geschäftlichen Entscheidungen eines Kunden. Ein Sach- und Unfallversicherer aus Großbritannien gab an: „Die meisten unserer Versicherungsnehmer stellen keine direkte Verbindung zwischen ihrer Versicherungspolice und der Tatsache her, dass wir in Vermögenswerte investieren. Nur wenige wissen, dass ihre Prämien überhaupt angelegt werden.“

Unternehmensweite Konsistenz

Da Versicherungsunternehmen zunehmend ihre ESG-Praktiken bewerben, stellt sich die Frage, ob sie diese auch unternehmensweit konsistent umsetzen. Können Versicherungsgesellschaften ESG über ihre Anlageprozesse hinaus auch auf ihr eigenes Geschäftsmodell anwenden? Die Umfrageteilnehmer nannten drei Bereiche, in denen dies tatsächlich der Fall ist.

Der erste Bereich betrifft die Ausrichtung von Aktiva und Passiva an Nachhaltigkeitsrichtlinien. Dies ist jedoch nicht immer möglich. Lebensversicherer verfügen bei der Auswahl ihrer Retail-Kunden beispielsweise nur über wenig Spielraum. Dagegen weisen Rück- sowie Sach- und Unfallversicherer klare Gelegenheiten zur Nutzung von ESG-Kriterien bei ihren Underwriting-Aktivitäten aus. Einige Firmen möchten Anlagen, die Klimarisiken ausgesetzt sind, möglicherweise nicht ausschließen, können ihre Prämien aber trotzdem erhöhen.

Der zweite Bereich ist die Ausrichtung der sozialen Verantwortung eines Unternehmens (Corporate Social Responsibility, CSR) an ESG-Faktoren. Die meisten Versicherer verfügten bereits vor der Berücksichtigung von ESG-Faktoren über CSR-Richtlinien, und das Aufkommen nachhaltiger Anlagen hat viele dazu bewegt, diese beiden Bereiche einander anzugleichen. Am häufigsten werden hierbei Umweltbelange in Erwägung gezogen. Von den Versicherungsunternehmen, die bestrebt sind, den ökologischen Fußabdruck ihrer Portfolios zu verringern, haben 46% auch Maßnahmen ergriffen, um die Klimaauswirkungen ihrer eigenen Geschäftstätigkeit zu reduzieren.

Darüber hinaus sehen sich Lebensversicherer einer spezifischen Herausforderung gegenüber, wenn es darum geht, für Konsistenz zwischen ihren eigenen Kapitalanlagen und den fondsgebundenen Investments, bei denen die Versicherungsnehmer das Anlagerisiko tragen, zu sorgen. Etwa 41% der Lebensversicherungsgesellschaften streben Mindeststandards über alle ihre Anlagelösungen hinweg an. Dies ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, da fondsgebundene Produkte oftmals extern verwaltete Fonds umfassen. Die übliche Strategie für Lebensversicherer besteht darin, eine solide ESG-Basis bei ihren allgemeinen Kapitalanlagen, die in erster Linie von Risikomanagementerwägungen geprägt sind, sicherzustellen und den Kunden fondsgebundene Produkte zu bieten, die über diesen Mindestrahmen hinausgehen.

Einige Versicherungsunternehmen streben mittlerweile Wettbewerbsvorteile durch nachhaltige Produkte an, darunter ESG-Modellportfolios, die Kunden fondsgebundene Lösungen zur Verfügung stellen, welche sich ausschließlich aus Produkten mit ESG-Label zusammensetzen. Somit besteht eine klare Chance für Unternehmen, mittels ihrer Nachhaltigkeitsmerkmale das Wachstum zu fördern und neue Kunden anzuziehen.

Die vollständige Versicherungsumfrage finden Sie hier.